Abgestempelt als „asozial“ Autor Robert Domes beschäftigt sich in seinem Roman „Waggon vierter Klasse“ mit lange vergessenen Opfern des NS-Terrors.

Die Veranstaltung zum Internationalen Holocaust-Gedenktag in der ehemaligen Synagoge Fellheim stellte die NS-Opfergruppe der „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ in den Mittelpunkt des Gedenkens. Schriftsteller Robert Domes las im Wechsel mit Schauspielerin Simone Schatz aus seinem neuen Roman „Waggon vierter Klasse“.

 

Domes verwebte die Biografien zweier Personen, die sich nie begegneten, doch beide den gleichen ausrangierten alten Bahnwaggon bewohnt hatten: Es sind der Obergünzburger Alois Roth, dessen Leben in den Konzentrationslagern Auschwitz und Mauthausen endet, und die 17-jährige Martha aus Ostpreußen, die mit ihrem Vater im Waggon 1948 eine erste Bleibe im Allgäu findet. Auf der Waggonaußenwand habe groß die Zahl Vier gestanden, erklärte Domes. Diese war keine Hausnummer, sondern Kennzeichen für die einst billigste Personenbeförderung der Bahn in der vierten Klasse.

Schatz liest mit ausdrucksstarker Stimme die Szene, als Martha nachts im Waggon von wimmernden Tönen wie Kinderweinen geweckt wird, aus dem Wagen steigt, voller Angst schnell wieder zurückweicht. Später wird sie die benachbarte Nutriazucht mit den kleinen Pelztieren finden, von denen die Geräusche stammten. Domes trägt die Szene vor, wie Alois Roth schwarzgeschlachtetes Fleisch im Handwagen transportiert und vom Landpolizisten gestellt wird. Im Saal ist es mucksmäuschenstill, das Publikum scheint mitzuzittern. Domes versteht es, die Zuhörenden in das Romangeschehen hineinzunehmen. Handlungsübergänge fasst er kurz zusammen, sodass die Lesung trotz Sprecherwechsel und Auslassungen ihren roten Faden behält.

Alois Roth war als Bauern- und Gastwirtssohn in Obergünzburg geboren, er war ein sehr guter Schüler, der beim Vater die Lehre abschloss. Doch schon bald wohnte Alois Roth im Waggon vierter Klasse außerhalb des Dorfes. Als Kleinkrimineller kam er unter der NS-Diktatur in KZ-Haft nach Auschwitz. Er starb nach dem Todesmarsch ins KZ Mauthausen kurz vor Kriegsende.

Seit dem NS-Grunderlass zur „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ vom Dezember 1937 konnte die Polizei sogenannte „Gemeinschaftsfremde“ beliebig in Konzentrationslagerhaft nehmen. Als Reichsjustizminister Otto Georg Thierack im September 1942 zusammen mit Himmler beschloss, Strafgefangene zur „Vernichtung durch Arbeit“ in Konzentrationslager zu deportieren, kamen über 20.000 Menschen, meist Wiederholungstäter und Kleinkriminelle, in die Hände der SS. Alois Roth wurde ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Die NS-Opfer mit dem Stempel „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ waren lange vergessen. Erst im Jahr 2020 erhielt diese Gruppe eine Rehabilitation durch den Deutschen Bundestag. (maw)

Memminger Zeitung, 30.01.2024

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Memminger Zeitung

 

 

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